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Der ungarische Abschnitt des Eisernen Vorhangs

Krisztina Slachta und Imre Tóth

Die Sicherung der südlichen und westlichen Grenzen Ungarns und deren festungsartiger Ausbau begann 1949, nach dem politischen Bruch zwischen der Sowjetunion und Jugoslawien. Am österreichisch–ungarischen und am jugoslawisch–ungarischen Grenzabschnitt erfolgte der Ausbau der Grenzzäune und die Verlegung von Minen in mehreren Phasen vom Frühjahr 1949 an. Bis Ende 1950 wurden an den beiden Abschnitten auf einer Länge von 1000 Kilometern Drahtzäune errichtet, 871 km wurden vermint. Des Weiteren wurden 291 Wachtürme errichtet. Die Bewohner der Grenzzone wurden aus- bzw. umgesiedelt, ihr Grundbesitz enteignet und ihre Immobilien verstaatlicht. Die genaue Zahl der erfolgreichen, gefassten bzw. bei der Flucht getöteten Grenzflüchtlinge ist bis heute unbekannt, und die Lebensgeschichten der beteiligten ungarischen bzw. der Staatsangehörigen anderer sozialistischer Staaten sind nicht oder nur kaum erforscht.

Noch vor der immer hermetischeren Absicherung dieser Grenzabschnitte wurde 1948 in einer Regierungsverordnung der Schusswaffengebrauch angeordnet, um die damals allgemein „Grenzverletzer“ genannten Personen aufzuhalten. Die Bestimmungen für den „rechtmäßigen“ Gebrauch von Schusswaffen wurden 1949 und 1953 detailliert geregelt.

Im Zuge der Entstalinisierung wurde zwar bis zum Sommer 1956 der Grenzstreifen entmint, was es den ungarischen Flüchtlingen nach der Niederschlagung der Revolution ermöglichte, die Grenze sicher zu überqueren, aber Anfang 1957 wurde mit dem Ausbau neuer, noch strenger bewachter Grenzanlagen begonnen. Die Verminung forderte eine bis heute unbekannte Zahl von Todesopfern und verursachte zahlreiche Unfälle. Davon waren außer Flüchtlingen auch Grenzsoldaten bei der Minenverlegung und Minenkontrolle betroffen. Im hügeligen Gelände wurden die Minen oft vom Regen und von überfluteten Bächen fortgespült, sodass durch sie nicht nur auf der ungarischen, sondern auch auf der österreichischen Seite Bauern bei der Feldarbeit verletzt wurden.

Die Ungarischen Sozialistische Arbeiterpartei (USAP) beschloss im Mai 1965 die Entfernung der Minen. Die praktische Durchführung des Beschlusses ließ aber auf sich warten. Ebenfalls 1965 nahm die österreichisch–ungarische Gemischte Kommission zur Untersuchung von Grenzzwischenfällen ihre Arbeit auf, die Grenzzwischenfälle sowie Fragen des Grenzverlaufs beriet. 1964 wurde auch der Schusswaffengebrauch neu geregelt. Eine Tötung von „Grenzverletzern“ sollte vermieden werden, die flüchtende Person sollte bewegungsunfähig gemacht werden bzw. das zur Flucht genutzte Fahrzeug war zu stoppen. Von der Schusswaffe sollte in begründeten Fällen, bei fahnenflüchtigen, vermutlich bewaffneten Soldaten Gebrauch gemacht werden.

1970 wurde die unfallgefährliche und technisch überholte Minensperre von einer elektronischen Signalanlage (EJR SZ-100) abgelöst, wodurch die strikte Grenzüberwachung noch rigoroser wurde. Die (im Ungarischen auch „technische Abriegelung“ genannte) elektronische Anlage löste mittels eines Niederspannungskabels aus Kupfer bei jeder Bewegung sofort Alarm für den nächstgelegenen Grenzposten aus. Die Grenzsoldaten riegelten dann die Grenze beiderseitig ab. Flüchtlinge hatten allerdings auch deswegen kaum eine Chance, weil der Eiserne Vorhang in Ungarn mehrere hundert Meter von der eigentlichen Grenze entfernt im Landesinnern verlief. Selbst wer es geschafft hatte, den Stacheldrahtzaun und die Sperranlage hinter sich zu lassen, wurde von den Grenzsoldaten, die durch spezielle Tore auf die andere Seite der Befestigungsanlage gelangten, noch auf ungarischem Gebiet gefasst und zurückgeführt. Die ungarisch-österreichische Grenze zeichnet sich durch zahlreiche Biegungen und Unregelmäßigkeiten aus, sodass sich Flüchtlinge, die schon österreichisches Gebiet erreicht hatten, manchmal unversehens wieder in Ungarn befanden, wo sie von den Grenztruppen erwartet und aufgegriffen wurden. Jeder Waffengebrauch und jeder Unfall musste protokolliert werden, ab 1984 zog er Untersuchungen der Militärstaatsanwaltschaft nach sich.

Die beim Grenzübertritt gefassten ostdeutschen Staatsangehörigen wurden aufgrund eines seit 1957 bestehenden Rechtshilfeabkommens und Rahmenvereinbarungen der Staatssicherheitsdienste nach einer 30-tägigen Untersuchungshaft vom ungarischen Staatssicherheitsdienst Vertretern der DDR-Staatssicherheit, der sog. Operativgruppe des MfS, in Ungarn übergeben.

Ab 1988 konnten ungarische Staatsbürger einen weltweit gültigen Pass („világútlevél“, d.h. „Weltpass“) beantragen, wodurch sich die strenge Überwachung der Westgrenze erübrigte. Dank eines Generationenwechsels auf der obersten Führungsebene der Grenztruppen begannen 1988 die Vorbereitungen und ab Frühjahr 1989 die Arbeiten zur Demontage des Eisernen Vorhangs. Die ungarische Grenztruppe begann im Frühling 1989, die elektronische Signalanlage „SZ 100“, d.h. den „Eisernen Vorhang“ an der österreichisch–ungarischen Grenze abzubauen. Darüber wurde am 2. Mai 1989 im Rahmen einer internationalen Pressekonferenz praktisch die ganze Welt informiert – noch bevor die DDR bzw. ihre Staatsicherheit auf amtlichem Weg darüber in Kenntnis gesetzt worden waren.

Im ersten Halbjahr 1989 wurde also die ungarisch-österreichische Grenzzone praktisch aufgehoben, und über die nun grüne Grenze gelang trotz der verstärkten Tiefenkontrollen immer mehr Ostdeutschen der Grenzübertritt nach Österreich. Neben den Nachrichten über die Demontage des Eisernen Vorhangs erfolgte eine rechtlich gesehen viel bedeutendere Änderung, und zwar Ungarns Beitritt zur Genfer Flüchtlingskonvention am 17. März 1989, der am 12. Juni rechtskräftig wurde. Die bis dahin alltägliche Praxis der Auslieferung ostdeutscher „Grenzverletzer“ änderte sich durch den Beitritt Ungarns zur Konvention grundlegend.

Im Vorfeld der Grenzöffnung kündigte die ungarische Regierung zum 11. September um 0 Uhr vorläufig die Paragrafen 6 und 8 des Abkommens über den visafreien Reiseverkehr mit der DDR, in denen sich Ungarn verpflichtet hatte, keine ostdeutschen Staatsbürger in Drittstaaten ausreisen zu lassen. Nach der offiziellen Grenzöffnung verließen bis zum 16. September 1989 insgesamt 14 000 DDR-Bürger Ungarn. Bis zum 20. September wuchs diese Zahl auf 17 500, denn nachdem sich die Nachricht über die Grenzöffnung in der DDR ausgebreitet hatte, reisten fortlaufend weitere DDR-Bürger nach Ungarn; nachdem die DDR keine Visa für Reisen nach Ungarn mehr ausstellte überquerten viele fluchtwillige die tschechoslowakisch-ungarische Grenze illegal. Es gab mehrere Todesfälle unter DDR-Flüchtlingen, die versuchten, durch den Eipel (Ipeľ/Ipoly) bzw. die Donau zu schwimmen, worüber die ungarische Presse berichtete. Allerdings lässt sich die genaue Zahl der Opfer aufgrund der Presseberichte nicht ermitteln. Über die ungarische Grenze flüchteten nach einer MfS-Zählung vom 6. November 1989 seit Januar diesen Jahres insgesamt 54 720 DDR-Bürger.

Dokumentarfilm von Gábor Zsigmond Papp über die DDR-Flüchtlinge in Ungarn im Sommer 1989: https://www.youtube.com/watch?v=UsUfZP70UFk&list=PLqTG8C2Qld9qswHUr99A-WgqGwyLYJNRf&index=11