Das albanische Grenzregime 1945–1990
Marenglen Kasmi
Die schon während des Zweiten Weltkrieges gebildete Regierung von Enver Hoxha zog am 28. November 1944 in Tirana ein, einen Tag bevor die deutsche Wehrmacht die letzte albanische Stadt Shkodra verließ. Der Abzug der Wehrmacht am 29. November 1944 bedeutete somit das Ende des Krieges für Albanien, was jedoch nicht zugleich bedeutete, dass die neue Regierung damit bereits in allen Teilen des Landes faktisch auch die Macht übernommen hätte. Problematisch war besonders die Lage im Norden und Nordosten, wo die kommunistische Propaganda während des Krieges nicht sehr wirksam gewesen war und die alte gesellschaftliche Organisation der Stämme bzw. die Stammesführer das Leben der Bevölkerung beeinflussten. Fast alle Stammesführer hatten sich während des Krieges entweder neutral verhalten oder waren gar erklärte Gegner der Kommunisten. So wurden weite Gebiete im Norden zu Zentren der albanischen antikommunistischen Strömungen. Die Kämpfe gegen antikommunistischen Gruppen zogen sich noch bis in die frühen 1950er Jahre hin.
Mit dem Schutz der Staatsgrenzen der neuen kommunistischen Republik wurde die Division der Volksverteidigung beauftragt. Diese Division war bei der Gründung einer neuen Organisation der albanischen Armee im Dezember 1944 aufgestellt worden und hatte eine Stärke von ca. 6.825 Soldaten. Die Division war der Vorläufer der späteren Grenzschutzkräfte. Die Einheiten dieser Division wurden in den Grenzgebieten eingesetzt. Neben anderen Aufgaben übernahmen sie auch den Schutz der Grenze. Das erste grundlegende Dokument, das die neuen Aufgaben der Grenzschutzkräfte definierte, war der Befehl des Oberbefehlshabers der albanischen Streitkräfte, Generalleutnant Enver Hoxha, vom Dezember 1946. Dieser sollte ein Jahr später als Orientierung für die Ausarbeitung der allgemeinen Bestimmung „Zum Schutz des Volkes“ dienen. Darin hieß es unter anderem, dass diese Truppe die illegalen Grenzüberquerungen der bewaffneten Banden und verschiedenen anderen böswilligen Elemente aufzudecken hatte und um jeden Preis verhindern musste.
Bereits 1947 erließ der Generalstab der Armee eine Sonderbestimmung, in der allgemein die Aufgaben und die Organisation des Grenzschutzdienstes sowie die möglichen Mittel zu dessen Einsatz dargelegt wurden. Demnach sollten feste Wachstellen, Patrouillen und vorgezogene f Überwachungsposten für den Schutz der Grenze sorgen. Die Grenze sollte schärfer kontrolliert werden, insbesondere an den Stellen, an denen sie leicht überquert werden konnte. Außerdem wurde im Grenzschutzsystem ein strenges Regime eingeführt. Das Überqueren der Grenze war nur noch an bestimmten Grenzübergängen möglich. Die Grenze überschreiten durften nur diejenigen, die im Besitz eines Passierscheins waren, der von den Grenzsoldaten sorgfältig kontrolliert wurde. Der Zoll wiederum kontrollierte die Gegenstände, die die Personen mit sich führten. Zu diesem Zeitpunkt wurden auch Maßnahmen ergriffen, um die Grenze vollständig zu isolieren, wobei ein besonderes Problem die Dörfer in der Nähe der Grenze darstellten. Für die Einheimischen, die das Gelände gut kannten und in der Nähe der Grenze lebten, war es ein leichtes, die Grenze heimlich an ungeschützten Stellen zu passieren. In einer von der damaligen Grenzpolizeidirektion erstellten Liste über die Flucht und Fluchtversuche aus Albanien in die Nachbarländer in den Jahren 1944 bis 1957 sind 1.924 geflohene Personen namentlich registriert, wobei fast alle in den Grenzregionen lebten. Deshalb wurden durch ein Rundschreiben der Division der Volksverteidigung, das zunächst an den Bezirk Korça und später an andere Grenzregionen gerichtet war, die Dörfer innerhalb des Grenzgebietes sowie die Regeln für die Kontrolle der in das Gebiet einreisenden Personen spezifisch definiert. In diesen Fällen sollten unverzüglich der Volksrat des Dorfes, die Grenzschutzbeamten sowie die Organe der Staatssicherheit benachrichtigt werden. Jedoch hinderten diese Regeln die Bevölkerung der Grenzregionen in keiner Weise daran, ihre Aktivitäten in Grenznähe, wie Landwirtschaft oder Beweidung, auszuführen. Sie durften sich der Grenzlinie bis auf 200 Meter nähern.
Kurz nach der Schließung der Staatsgrenze zu Beginn des Jahres 1945 setzte sich die Erkenntnis durch, dass die Grenze nur dann vollständig bewacht werden konnte, wenn die Grenzüberwachung gemeinsam mit der Geheimpolizei (Sigurimi) organisert würde. In diesem Sinne umfassten der Grenzschutz und die Grenzverteidigung neben der militärischen Tätigkeit der Truppe auch die agentur-operativen Maßnahmen, die von der Staatssicherheit durchgeführt wurden. Die Sigurimi-Mitarbeiter im Grenzgebiet informierten die Grenzschutztruppen über die Orte, an denen die Grenze überquert werden sollte. Auf der Grundlage dieser Informationen organisierten die Grenzschutzsoldaten Hinterhalte, um Fluchtversuche zu verhindern. Die Sigurimi machte die Grenzschutztruppen wiederholt auf die Notwendigkeit von Maßnahmen aufmerksam, Fluchtversuche ins Ausland zu verhindern. Im Oktober 1949 wurde die Division der Volksverteidigung abgeschafft und alle Grenzschutzkräfte kamen unter das Kommando der neu gebildeten Grenzpolizeidirektion, die wiederum direkt dem Innenministerium unterstellt war. Diese Strukturänderung ermöglichte eine zentralere Kommandierung der Grenzschutzkräfte sowie eine einfachere und schnellere Koordinierung der Kampfhandlungen der Grenzschutzeinheiten. Infolge dieser Veränderungen wurde die Grenzüberwachung im Laufe der Jahre modernisiert. Seit 1952 entlang der gesamten Grenze Spurenbänder, Randteppiche, Birkenzäune und später Zäune aus Stacheldraht, Geräuschmittel bzw. Feuerwerksinstallationen, Markierungspatronenrohre und ähnliches verwendet. Der Bau von Spurerkennungs- und Signalwerkzeugen wurde 1954 erheblich erweitert. Dieses Jahr stellte eine Zäsur dar, da bis Ende des Jahres 70 000 Meter Beobachtungsstraßen, 60 000 Meter Zaun sowie viele andere Grenzkontrollinstrumente errichtet worden waren.
Wegen steigender Flüchtlingszahlen ordnete die kommunistische Parteiführung 1956 an, dass die Grenzkräfte organisatorisch gestärkt werden und deren Zahl deutlich erhöht werden sollte. Im Jahre 1964 wurden die Anweisungen zur Bewachung der Staatsgrenze vollständig überarbeitet. In diesen Anweisungen erhielten die Grenzschutzsoldaten klare Befehle, wie sie in jedem Fall von Grenzverletzungen vorgehen sollten. Wurden Grenzbrecher tagsüber oder bei Dunkelheit von Grenzschutzsoldaten entdeckt, so mussten sie aufgehalten werden. Weigerten sich die Täter, sich zu ergeben, waren zunächst Versuche zu unternehmen, sie lebend zu fangen. Sollte dies nicht möglich sein, war ihre Ausschaltung unvermeidbar. Befanden sich Frauen und Kinder unter den Grenzbrechern, so war das Feuer gegen männliche Erwachsene und nicht gegen Frauen und Kinder zu eröffnen. Im Jahre 1985 bestanden die Grenzstreitkräfte aus dreizehn Grenzbataillonen und drei autonomen Kompanien mit einer Gesamtstärke von 5.700 Mann. Die Erfahrung zeigte jedoch, dass diese Kräfte nicht ausreichten, um die zunehmenden illegalen Grenzüberquerungen der Albaner, vor allem in den Jahren 1988 bis 1990, zu verhindern. Mit dem wachsenden Wunsch, Albanien zu verlassen, wurden die Menschen auch erfinderisch. Oft freundeten sie sich mit Grenzbewohnern an oder überquerten die Grenze in entfernten Sektoren bei schlechtem Wetter.
Von November 1944 bis November 1990 flohen durch „gesetzwidrige Grenzübertritte“ einzeln, in Gruppen oder in Familien 13 692 Personen aus Albanien. 4.472 waren Frauen und Kinder. Insgesamt 988 weitere Personen oder 7,8 Prozent kamen durch widrige Umstände ums Leben oder wurden beim Fluchtversuch erschossen. Die Tatsache, dass die Zahl der während des Fluchtversuchs an der Grenze Festgenommenen fast höher ist als die Zahl der Flüchtlinge, zeigt, dass das albanische Grenzregime sehr gut organisiert war. In den Jahren 1989 und 1990 wuchs auch in Albanien die Zahl der Menschen an, die das Land verlassen wollten. Wie in einigen Ostblockstaaten begaben sich zahlreiche Ausreisewillige in diplomatische Vertretungen und stellten Asylanträge. In der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland waren das 3.172 Personen, in der italienischen Botschaft 809 Personen, in der Botschaft Frankreichs 547 Personen, in der griechische Botschaft 29 Personen, in der türkische Botschaft 73 Personen, in der ungarischen Botschaft 40 Personen, in der tschechoslowakischen Botschaft 51 Personen, in der jugoslawischen Botschaft 6 Personen, in der ägyptischen Botschaft 6 Personen, in der bulgarischen Botschaft 5 Personen und in der Botschaft Polens 52 Personen. Von 4.785 Flüchtlingen waren 1.509 oder 31,5 Prozent junge Leute, Schüler an Pflichtschulen und Gymnasien, 59 Personen oder 1,2 Prozent waren Studenten, 123 Personen oder 2,5 Prozent hatten einen Hochschulabschluss, 2 013 Personen oder 42 Prozent hatten einen Sekundarschulabschluss, 1 974 Personen oder 41,2 Prozent hatten einen achtjährigen Hauptschulabschluss (die restlichen waren Kinder). Bei den Fluchtversuchen über die Grenzen im Jahre 1990 schossen Grenzschutzkräfte auch weiterhin auf Flüchtlinge und verursachten in mehreren Fällen ihren Tod. Es gibt noch keine umfassende und seriöse Studie über die Anzahl dieser Opfer und die Umstände ihrer Tötung.