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Das jugoslawische Grenzregime und die Flüchtlinge aus der DDR

Petar Dragišić

Der ideologische und geopolitische Konflikt mit der Sowjetunion im Jahr 1948 prägte entscheidend die außenpolitische Orientierung des sozialistischen Jugoslawiens. Der Druck des Ostens drängte Jugoslawien zur grundlegenden Revision der bisherigen Beziehungen mit dem Westen. Damit stellte der Bruch mit Stalin den kardinalen Wendepunkt in der Geschichte des zweiten Jugoslawiens dar. Trotz der stufenweisen Normalisierung der jugoslawisch-sowjetischen Beziehungen nach dem Tod von Josef Wissarionowitsch Stalin im März 1953 kehrte Jugoslawien nie mehr in den Ostblock zurück. Stattdessen stellte Mitte der 1950er Jahre das Tito-Regime die Weichen für eine exotische und beispiellose blockfreie Strategie. Bis zum Ende des Kalten Krieges blieb das Lavieren zwischen den beiden Machtblöcken eine Konstante in der Außenpolitik Jugoslawiens. Dazu legte Jugoslawien den Akzent auf die Vertiefung der Beziehungen zu den Entwicklungsstaaten im globalen Süden. Seit Mitte der 1950er Jahre bestimmte der neutrale, blockfreie Kurs Jugoslawiens maßgeblich seine Nachbarschaftspolitik bzw. die Lage Jugoslawiens in Südosteuropa. Wie auf globaler Ebene musste das Regime auch „zu Hause“ eine delikate blockfreie Strategie verfolgen. Das war umso komplizierter, da Jugoslawien während des Kalten Krieges an die beiden geopolitischen und ideologischen Machtblöcke grenzte. Während Bulgarien, Ungarn, Rumänien und Albanien zu der sozialistischen Welt gehörten, bildeten Griechenland und Italien die tragenden Säulen des Nordatlantikpakts. Anders verhielt es sich mit der Position Österreichs, das trotz seiner offiziellen Neutralität stark mit westlichen Strukturen verbunden war.

Aus dieser Position Jugoslawiens zwischen den beiden Machtblöcken ergab sich eine angespannte Situation an seinen Grenzen. Vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum Zusammenbruch dieses multiethnischen Konglomerats am Balkan waren Grenzzwischenfälle, Schmuggel und illegale Grenzübertritte eine Alltäglichkeit in den jugoslawischen Grenzgebieten. Die unruhige Lage versuchte Jugoslawien durch strenge Sicherheitsmaßnahmen im Grenzraum zu bekämpfen. Der Grenzraum wurde als ein fünfzehn Kilometer breiter Gürtel entlang die jugoslawischen Grenzen definiert. Gemäß dem Grenzkontrollgesetz durften sich in diesem Raum nur jene jugoslawischen Bürger aufhalten, die im Besitz eines besonderen Ausweises waren. Die legale Bewegung bzw. den Aufenthalt von Nicht-Jugoslawen im Grenzraum, ausgenommen der Grenzübergänge, konnte nur das jugoslawische Innenministerium genehmigen. Für Verstöße gegen diese Regelung sah das Gesetz Haftstrafen von bis zu drei Monaten bzw. hohe Geldstrafen vor. Illegale ausländische Einreisende konnten außerdem abgeschoben werden, wobei die Entscheidung hierüber beim jugoslawischen Innenministerium lag.

Achtzehn Jahre später, 1965, wurde der Grenzraum gesetzlich umdefiniert und auf einen 100 Meter breiten Gürtel entlang die Grenzlinie reduziert. Eine Ausnahme bildete dabei die Grenze am Adriatischen Meer, wo der Grenzgürtel zwei Meilen breit war. Immerhin behielt sich die Bundesregierung Jugoslawiens das Recht vor, gegebenenfalls im Interesse der „Sicherheit an der Grenze“ und der „Verteidigung des Landes“, den Grenzgürtel stellenweise auszuweiten. Diese Entscheidung konnte aber nur auf Vorschlag des Innen- oder Verteidigungsministeriums getroffen werden.

Von diesem Privileg machte die jugoslawische Regierung vier Jahre nach dem Erlass des Grenzkontrollgesetzes Gebrauch. Anfang Februar 1969 beschloss die Bundesregierung Jugoslawiens, den Grenzgürtel um die Grenzübergänge auf 400 Meter auszuweiten. Ausnahmen bildeten drei Grenzübergänge – Horgoš (an der Grenze zu Ungarn), Gradina (an der Grenze zu Bulgarien) und Ljubej (an der Grenze zu Österreich), um welche der Grenzgürtel auf 800 Meter beziehungsweise 1 100 Meter ausgeweitet wurde. Anfang der siebziger Jahre existierten an den jugoslawischen Grenzen 175 Grenzübergänge (91 permanente und 84 saisonale Grenzübergänge).Gemäß Artikel 4 und 32 des 1965 erlassenen Grenzkontrollgesetzes oblag dem Innen- und Verteidigungsministerium die Überwachung der Grenze, wobei die Grenzeinheiten der Jugoslawischen Volksarmee (Jugoslovenska narodna armije) für die Kontrolle des Grenzraums außerhalb der bewohnten Gebiete und Grenzübergänge zuständig waren. Das Grenzkontrollgesetz von 1965 enthielt in Kapitel IV eine Reihe von Straf- und Bußgeldvorschriften. Für illegalen Grenzübertritt bzw. für Grenzübertritt ohne einen gültigen Reiseausweis sah das Gesetz eine Freiheitsstrafe bis zu 30 Tagen oder eine Geldbuße von bis zu 50 000 Dinar (Artikel 53 Abs. 1) vor.

Das Militär (Jugoslovenska narodna armije – Jugoslawische Volksarmee) und die Polizei (bzw. die Polizeien der jugoslawischen Länder) waren die tragenden Säulen des Sicherheitssystems der jugoslawischen Grenzen. Für die Kontrolle des Grenzraums außerhalb der bewohnten Gebiete und Grenzübergänge waren die Grenzeinheiten der jugoslawischen Streitkräfte zuständig. Dieses Segment der Jugoslawischen Volksarmee entstand Anfang der fünfziger Jahre aus dem Korps der Volksverteidigung (Korpus narodne odbrane), einem Großverband der Jugoslawischen Volksarmee. Im Jahr 1953 bestanden die Grenzeinheiten der jugoslawischen Streitkräfte aus sechs Brigaden und einem selbstständigen Grenzbataillon. Bei der Sicherung der Staatsgrenze waren die jugoslawischen Grenztruppen auch auf die Unterstützung seitens der lokalen Bevölkerung angewiesen. Die Jugoslawische Volksarmee versuchte ihre Aufgaben mit der Bevölkerung der Grenzgebiete zu koordinieren. Daher half die Zivilbevölkerung häufig bei Festnahmen von illegal Einreisenden.

In einem Bericht vom März 1970 brüstete sich das Innenministerium mit den Erfolgen bei der Sicherung der Staatsgrenze. In diesem Zusammenhang wurde unter anderem hervorgehoben, dass im Jahr 1969 die jugoslawischen Sicherheitskräfte 2 601 illegale Grenzübertritte von 1 635 Ausländern und 966 jugoslawischen Staatsbürgern vereiteltet hatten. Darüber hinaus entdeckten die jugoslawischen Grenzpolizisten 2 585 gefälschte oder ungültige Pässe und 295 Waffen. In diesem Bericht wurden jedoch auch die Faktoren angegeben, die die Kontrolle an den Grenzübergängen beeinträchtigen. So wurden unter anderem technische Probleme an den Grenzübertrittsstellen, wie zum Beispiel unzureichende Kontrollpunkte oder mangelnde Ausrüstung für die Entdeckung der gefälschten Ausweise, hervorgehoben. Außerdem wurde als ein großes Hemmnis für wirksamen Grenzschutz auch reger grenzüberschreitender Verkehr nach der 1970 erfolgten Visaliberalisierung mit einer Reihe von europäischen Ländern erwähnt.

In den ersten acht Monaten des Jahres 1969 verhinderten die jugoslawischen Sicherheitskräfte 450 illegale Fluchtversuche von Osteuropäern über Jugoslawien in den Westen. Die überwiegende Mehrheit dieser Flüchtlinge kam aus den benachbarten sozialistischen Staaten – Ungarn, Bulgarien und Rumänien – sowie aus der Tschechoslowakei. Wesentlich weniger in diesem Zeitraum festgenommene Migranten stammten aus Polen oder der DDR. Die Angaben über die durch die jugoslawischen Sicherheitskräfte vereitelten Fluchtversuche weisen darauf hin, dass die illegalen Flüchtlinge aus der DDR, die Ende der sechziger Jahre über Jugoslawien in den Westen emigrieren wollten, dieses Ziel hauptsächlich durch die Überquerung der jugoslawisch-österreichischen Grenze zu erreichen versuchten. Im Jahr 1968 wurden acht DDR-Bürger an der jugoslawisch-österreichischen Grenze bei illegalen Fluchtversuchen festgenommen, während im selben Jahr an der jugoslawischen Grenze zu Italien die jugoslawischen Sicherheitskräfte keine Ostdeutschen gefangen nahmen.

In den siebziger Jahren mehrten sich Fluchtversuche der Osteuropäer über Jugoslawien. Von 1975 bis Herbst 1982 registrierte das jugoslawische Innenministerium 8 955 Fluchtversuche von osteuropäischen Staatsbürgern. Auffallend war, dass die Zahl dieser Fälle Anfang der achtziger Jahre deutlich anstieg. Während von 1975 bis 1978 2 730 illegale Fluchtversuche entdeckt wurden, registrierte das jugoslawische Innenministerium 6 225 Fluchtfälle von Januar 1979 bis September 1982. Ein Spezifikum dieses Zeitraums war die steigende Zahl der Flüchtlinge aus Rumänien und der Tschechoslowakei. In der Regel entschied sich nur eine geringe Zahl der osteuropäischen Flüchtlinge dafür, in Jugoslawien zu bleiben. Ihr vorrangiges Ziel war die Auswanderung in Drittstaaten westlich des Eisernen Vorhangs, wobei Titos Pufferstaat nur als „Transitraum“ benutzt wurde. Einen Unterschlupf in Jugoslawien suchten nur diejenigen, die infolge eines gescheiterten Fluchtversuchs zumindest vorübergehend in Jugoslawien bleiben mussten

Mitte der siebziger Jahre änderte bzw. lockerte sich die jugoslawische Einstellung gegenüber der empfindlichen Frage der osteuropäischen Flüchtlinge. Am 16. April 1975 führte das Präsidium eine neue Regelung bezüglich des Umgangs mit Flüchtlingen aus den sozialistischen Ländern ein, die in krassem Widerspruch zur bisherigen Praxis stand. Diese Instruktion stellte die Weichen für die ungehinderte Massenflucht über Jugoslawien. In dem Dokument sprach sich das Staatsoberhaupt gegen die Rückführung osteuropäischer Flüchtlinge aus, die aus politischen, familiären oder finanziellen Gründen ihre Herkunftsländer verlassen hatten. Die Verordnung sah vor, dass solche Migranten Jugoslawien ungestört verlassen konnten bzw. in die gewünschten Drittländer ausreisen durften. Allerdings konnten Migranten, die das Territorium Jugoslawiens illegal betreten hatten, erst nach der Bestrafung gemäß des Grenzkontrollgesetzes ausreisen. Das jugoslawische Innenministerium behielt sich das Recht vor, Flüchtlinge unter Berücksichtigung der Beziehungen zu ihren Herkunftsländern zurückzuführen.

Die neue Regelung des Umgangs mit osteuropäischen Flüchtlingen konnte auch im Ausland nicht unbemerkt bleiben. Bereits im Jahr 1976 stellte die italienische Polizei fest, dass Jugoslawien die Flüchtlinge aus dem sozialistischen Lager nicht wie früher abschiebe, sondern in einem Flüchtlingslager in der Nähe der jugoslawischen Hauptstadt (Padinska Skela) unterbringe. Den Flüchtlingen würde dann ermöglicht, so hieß es in einem der Triester Questura (Questura di Trieste) präsentierten Bericht, sich an die westlichen diplomatisch-konsularischen Vertretungen zu wenden. Italienischen Informationen zufolge entschied sich jedoch die Mehrheit der Flüchtlinge dafür, illegal in den Westen zu emigrieren, und zwar meistens über die jugoslawisch-italienische Grenze. Aufgrund der geografischen Lage Sloweniens (Slowenien grenzte an Italien und Österreich) war das Innenministerium des westlichsten jugoslawischen Bundeslandes in diese illegale Praxis besonders tief involviert. Von 1977 bis 1980 brachte die slowenische Polizei über 2 000 osteuropäische Flüchtlinge über die jugoslawischen Grenzen nach Österreich und Italien.

Mitte der siebziger Jahre hoben Vertreter der DDR bei mehrmaligen Kontakten mit jugoslawischen Diplomaten und Sicherheitsorganen die Rolle der Bundesrepublik Deutschland bei der Realisierung von illegalen Fluchten Ostdeutscher über das Territorium Jugoslawiens hervor. Unterstrichen wurde dabei vor allem die westdeutsche Unterstützung für Intellektuelle und Ärzte aus der DDR bei ihren Fluchtversuchen über Jugoslawien. Rund ein Jahrzehnt später beschwerten sich Ostdeutsche bei jugoslawischen Diplomaten über die Tätigkeit der westdeutschen Konsulate in Jugoslawien, die, so hieß es im Jahresbericht der jugoslawischen Botschaft in Berlin für 1985, ostdeutschen Flüchtlingen „großzügig“ westdeutsche Reisedokumente ausgestellt hätten.

Im Unterschied zu den Flüchtlingen aus der DDR, die als Touristen oder Sportler legal nach Jugoslawien einreisten und dann in den Westen emigrierten, kamen manche DDR-Flüchtlinge illegal nach Jugoslawien, was keineswegs ein risikofreies Unternehmen war. Besonders großes Risiko nahmen jene illegalen DDR-Migranten in Kauf, die die rumänisch-jugoslawische Grenze überquerten, indem sie die Donau durchschwammen.

Die Vorbehalte der DDR gegenüber Jugoslawien paralysierten den touristischen Austausch zwischen den beiden Ländern. Folglich blieb die Zahl der DDR-Bürger, die von der zweiten Hälfte der sechziger Jahre bis zum Zusammenbruch des Kommunismus legal nach Jugoslawien reisten, extrem klein. Von Ende der sechziger Jahre bis 1974 war die DDR der einzige Ostblockstaat, der seinen Staatsbürgern touristische Reisen nach Jugoslawien untersagte. Daran änderte sich nach dem Inkrafttreten des Abkommens über Visa-Erleichterungen zwischen Jugoslawien und der DDR nur wenig. Von 1974 bis Anfang der achtziger Jahre besuchten Jugoslawien jährlich nur rund 2 000 ostdeutsche Touristen. Die geringe Zahl der Touristen aus der DDR in Jugoslawien war direkte Konsequenz der jugoslawischen Weigerung, die ostdeutschen Fluchtrouten durch Jugoslawien zu schließen. Dabei berücksuchtigte Belgrad vor allem die Interessen seines wichtigsten Wirtschaftspartners – der Bundesrepublik Deutschland.